Anyway, they are definitely good!

Die Fotografien des Holger Biermann

 

Von Enno Kaufhold

Zwanzig beidseitig bedruckte Papiere im DIN A 6-Format mit einem weiteren, ebenfalls bedruckten, aber stärkeren Blatt zusammengeheftet, das sind die äußerlichen Merkmale für die Publikationen, mit denen der in Berlin lebende Holger Biermann seine Fotografien verbreitet. Die solchermaßen für ihn zum Markenzeichen gewordenen Booklets sind mal im Hoch- und mal im Querformat angelegt und mal farbig und mal Schwarz-Weiß ausgestattet und enthalten zumeist 41 ganzseitige Abbildungen. Verbreitet hat er die Booklets bislang in Auflagen zwischen 300 und 1.000 Exemplaren. Motivisch bewegt er sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf dem Terrain der klassischen Straßenfotografie – kurzgefasst, er lebt sie, er verkörpert sie geradezu.

Es folgt einer gewissen Plausibilität, dass die Anfänge seiner Straßenfotografie in New York liegen, wo er sich von 2001 bis 2003 aufhielt. Und mithin in der Stadt, die wohl die meisten der weltweit bekannt gewordenen Fotografinnen und Fotografen dieses Sujets hervorgebracht hat. Genannt seien, um nur die wichtigsten zu nennen, Walker Evans, Helen Levitt, Lisette Model, William Klein, Robert Frank, Diane Arbus, Lee Friedlander, Garry Winogrand, Tod Papageorge, Joel Meyerowitz oder Philip-Lorca diCorcia. Sie alle haben auf ihre je eigene Art mit ihren bildnerischen Arbeiten Akzente gesetzt. Straßenfotografie bedingt die Großstadt, zwingend, denn nur dort kommt es, um sie praktizieren zu können, zu den notwendigen Verdichtungen auf den Straßen, wenn zig Menschen im täglichen Einerlei aufeinandertreffen. Eben diese Stadt, New York City, löste bei Holger Biermann angesichts der für ihn ungewohnt vielen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen den entscheidenden Impuls aus. So wanderte er über Monate durch die Straßen dieser Weltmetropole und fotografierte, was er sah. So auch im Umfeld des Anschlags auf die Twin-Tower am 11. September 2001. Von der Idee der Booklets war er zu dieser Zeit noch weit entfernt, und auch als er 2003 nach Berlin kam und dort weiter seiner Passion der Straßenfotografie nachging, dauerte es noch mehrere Jahre bis zur Idee des Booklets. Die Überlegungen dazu begannen erst 2011 im Zusammenhang mit einer zweiwöchigen Residentschaft in Berlin-Lichtenberg, als es um die Veröffentlichung der von ihm aufgenommenen Fotografien ging und er die von den Lichtenberg Studios bereits praktizierte Form der Booklets übernahm. Diese erste Ausgabe avancierte dann in seiner ganzen Aufmachung zur Blaupause für alle nachfolgenden Booklets. Die darin veröffentlichten Fotografien zeigten jedoch nicht, wie nach dem bislang Gesagten zu erwarten wäre, Straßenfotografien, sondern davon abweichend Gartenzäune, Vorgärten, Häuser und Straßen oder andere Ansichten von Lichtenberg. Die Erklärung gab Holger Biermann auf dem Rückcover. „Lichtenberg“, so schrieb er, „beginnt, wo meine Berlin-Touren normalerweise aufhören: hinterm Ostkreuz. Dort beginnt die große Leere. Menschen begegnete ich hier nur vereinzelt auf der Straße. Der Raumabstand ist groß.“ Unverkennbar schrieb hier der Straßenfotograf, der sich bedingt durch die Umstände in Lichtenberg während der Residentschaft auf für ihn fremdem Terrain bewegt hatte. Das allerdings durchaus überzeugend, wie die Bilder mit ihrer kleinbürgerlichen Idylle in Kombination mit solchen nur mäßiger Straßenaktivitäten vor Augen führen.

Herausgekommen ist jedoch mit dieser für ihn artfremden Motivik eine Präsentationsform, die er für sein zweites im folgenden Jahr herausgegebenes Booklet übernimmt. „Terrassen am Zoo“, so dessen anspielungsreicher Titel, fasst erstmals zusammen, was er seit 2003 in Berlin auf den Straßen fotografiert hat. Mit dieser Publikation darf nun definitiv festgestellt werden, dass Holger Biermann ein besessener Bildersuchender ist, der sich beim Bildermachen nicht konzeptionell von vornherein auf bestimmte Ereignisse konzentriert, sondern für viele Motive offen ist. Er geht, und Gehen muss hier wortwörtlich verstanden werden, mit stets offenen Augen und aufnahmebereiter Kamera durch die Stadt und sammelt erst einmal alles, was ihm – aus welchen Gründen auch immer – auf seinen Wegen bildwürdig erscheint. Damit praktiziert er, was seit Jahrzehnten mit dem Begriff des Flanierens gemeint ist, zunächst bei Literaten und später bei Fotografen. Der Flaneur streift ohne festgefügtes Konzept, vermeintlich ziellos, durch die Straßen, wobei auch hier durchweg die für ihn konstitutiven Straßen der Großstadt gemeint sind. Holger Biermanns Wege führen ihn durch bestimmte, wiederholt von ihm besuchte Areale im Zentrum von Berlin, es kommen aber genauso nach und nach neue Gebiete hinzu, oder es finden Ereignisse statt, die seine Aufmerksamkeit als Fotograf erregen. Oder, wie er es 2012 in dem besagten Booklet „Terrassen am Zoo“ formulierte: „Manchmal passiert Ungewöhnliches in Berlin.“

Zugleich begann mit dieser zweiten Ausgabe, die Motive aus der Zeit von 2003 bis 2010 vereinte, die eingehendere Beschäftigung mit dem eigenen Archiv, und das heißt, die Suche nach solchen Bildern, die sich mit einem gewissen Grundtenor inhaltlich zusammenfügen. Genau 10 Jahre, nachdem er New York verlassen hatte, führte er erste noch dort fotografierte Motive in dem folgenden Booklet „Leaving Today“ zusammen, einschließlich einiger der am 11. September 2001 in Farbe aufgenommenen Szenen. Mit dem bezeichnenden Titel „Gold“ folgte 2014 die nächste Ausgabe mit Szenen von den Berliner Fan-Meilen der Fußballweltmeisterschaften 2006 und 2010, also einem klar umrissenen Thema, wiederum in unverkennbarer Manier der Straßenfotografie gehalten. Das will heißen, in seinen Bildern bestätigt sich, was den jungen Henri Cartier-Bresson einst zur Fotografie gebracht hat, als er sich von der Malerei und dem Film lossagte, um zukünftig nur noch zu fotografieren. Als er nämlich zur Überzeugung gelangte, dass allein die Technik der Fotografie zu Bildern ungeahnter Momenthaftigkeit führt und das in einer bildhaften Perfektion, die von keinem anderen Medium in dieser Absolutheit erlangt werden kann. In der Tat gehört es zur Wahrheit fotografisch erfasster Momente, diesen Winzigkeiten des Augenblicks, dass sie sich nie in der bildhaft festgehaltenen Form wiederholen werden, und Form muss hier wörtlich genommen werden als die jeweilige spezielle gestalterische Ausprägung. Allein das fotografische Bild kann einen Moment eines unendlichen Kontinuums fixieren. Diese Erkenntnis darf und sollte aber nicht von der gleichermaßen richtigen Feststellung getrennt werden, wonach nicht jeder isolierte und in Bildern fixierte Moment eine gewisse ästhetische oder inhaltliche Attraktivität erreicht. Folglich bleibt es wie seit Beginn der Straßenfotografie bei der Anforderung an das spezielle Sehen und das bedeutet in der alltäglichen Praxis das Antizipieren von bildwürdigen Situationen. Das Wissen um den „entscheidenden Augenblick“ muss diesem um Sekundenbruchteile vorauseilen, anders reicht selbst das schnellste Reaktionsvermögen nicht aus. Und es sind die kleineren, zumeist übersehenen Begebenheiten, für die der Fotografierende ein feinsinniges Sensorium haben muss. Von Garry Winogrand, einem der bedeutenden Repräsentanten der jüngeren Straßenfotografie, kennen wir das ans Manische grenzende seines Fotografierens. Ständig in Bewegung warf er in kürzester Frequenz immer wieder einen prüfenden Blick auf die Einstellungen am Objektiv und an der Kamera, um diese im nächsten Moment vor seinem Auge zu haben. Zugleich hielt er den Finger schussbereit am Auslöser. Dem nicht ganz unähnlich, jedoch in der Motorik seines Körpers weniger auffällig, arbeitet auch Holger Biermann, jederzeit zum Fotografieren bereit.

Als wollte er sich und anderen zeigen, dass er mehr als nur die Straßenfotografie beherrscht, ließ er 2015 ein Booklet mit Motiven folgen, die von der Abstraktion bis zur Gegenstandslosigkeit reichen und eben das abbilden, was ihm, wie der Titel es formuliert, „Vorübergehend“ begegnet ist. Die darin gesammelten schwarz-weißen und farbigen zwischen 2007 und 2012 aufgenommenen Bilder erinnern an das Informell der Malerei der Nachkriegsjahre ebenso wie an Graffiti-Bilder, wie sie Brassai meisterhaft in Paris fotografierte. Mehr aber noch nehmen sie Impulse der Amerikaner Aaron Siskind und Harry Callahan, den beiden Lehrern am New Bauhaus in Chicago, oder aber solche von Minor White auf. Womit sich einmal mehr der Einfluss der amerikanischen Fotografie auf sein Arbeiten zu erkennen gibt. Diese Bilder leben primär von der Form, also von Bildfindungen, die dem Betrachter unbegrenzte Assoziationsräume öffnet. Auch das nachfolgende Booklet mit weiteren Motiven aus seiner New Yorker Zeit lässt schon im Titel „Don’t Call Me – I Call You“ das Amerikanische anklingen. In der Auswahl der Bilder verdichtet Holger Biermann den Blick auf Frauen, denen er begegnet ist. Buchstäblich aus nächster Nähe aufgenommen lassen speziell die geblitzten Porträts an Diane Arbus‘ Tageslichtaufhellungen mit Blitzlicht denken. Noch auffälliger drängt sich jedoch der Bezug zu Garry Winogrands berühmter Serie „Women Are Beautiful“ auf. In dieser wie in den Bildern von Holger Biermann lässt sich eine Verehrung, wenn nicht sogar Huldigung an die Frauen schlechthin lesen.

Mit der nächsten, noch im selben Jahr 2016 herausgebrachten Veröffentlichung „Weder/Noch“ mit überwiegend farbigen Motiven, die zwischen 2004 und 2015 in Berlin entstanden, bekräftigt er, in der Form der Booklets seine ihm ganz eigene Ausdrucksform gefunden zu haben. Zugleich verdeutlicht er erneut, in welchem Maße seine Wahrnehmung der spezifischen Phänomene Berlins über die Straßenfotografie hinausreicht, denn diesmal führt er Ansichten unterschiedlichster Architektur und Ensemble zusammen, die das ungeordnete, anarchische, letztlich wild Wuchernde dieser im steten Wandel befindlichen Großstadt protokollieren. Jeglicher konventionellen Stadt- oder gar Reisebuch-Fotografie abholt, legt er sozusagen den fotografischen Finger in die „offenen Wunden“ der Stadt, womit die schier unendlichen Hässlichkeiten des Alltags gemeint sind, wie sie gemeinhin übersehen werden. Gleichwohl zeichnen diese Bilder ein wahrheitsgetreues Abbild Berlins mit seiner Mischung aus Neuem wie Alten, Vernachlässigten wie extra Betontem, Harmonischen wie wahrlich Unvereinbaren. Als Ausdruck der gewonnenen Überzeugung, mit den Booklets seine Ausdrucksform und zugleich den für ihn richtigen Weg der Distribution gefunden zu haben, veröffentlich er noch im selben Jahr die nächste Ausgabe mit Motiven, die nicht nur in Berlin, sondern auf seinen Reisen zwischen 2003 und 2010 in Tschechien, Warschau und Wien entstanden. Interessanterweise lassen diese Fotografien nur schwer, wenn überhaupt erkennen, wo sie entstanden.

Mit zunehmendem Elan und gewonnener Sicherheit folgen 2017 in schneller Folge weitere Booklets. Zunächst steht noch einmal Berlin im Zentrum, diesmal mit einem deutlichen Fokus auf einzelne Personen. Der Titel „Original Berlin“ verweist auf die Vielschichtigkeit der in dieser Stadt anzutreffenden Menschen, er könnte genauso „Berliner Originale“ heißen, ohne dass irgendein spezieller Typus herausgestellt wird. Dieser Idee mit den Einzelpersonen geht auch das nächste, „New York Starter“ betitelte Booklet nach, wobei Holger Biermann erneut auf die Bilder aus seiner dort verbrachten Zeit und damit seinen Anfängen zurückgreift. Darauf folgt ein erneutes Berlin-Booklet mit dem ironisch zu verstehenden Titel „If You Come To Berlin“. Die darin enthaltenen Fotografien suggerieren unterschwellig den Hinweis „Machen Sie sich auf einiges gefasst, wenn sie diese Stadt besuchen“; denn diesmal greift Holger Biermann herzhaft und unerschrocken zu und zeichnet schonungslos auf, was ihm so bei seinen Fußwanderungen vor die Kamera kam. Bei diesem Bilderreigen, aber das ist durchgehend zu beobachten, lassen sich immer wieder Blickkontakte mit den Menschen erkennen, die er spontan und ganz unvermittelt fotografiert hat. Ob diese nun wohlwollend, skeptisch oder sogar ablehnend sind, in allen Fällen lassen diese Blickkontakte indirekt erkennen, dass Holger Biermann kein Hehl aus seiner fotografischen Aktivität macht. Dass er als Fotografierender erkannt wird, nimmt er als konzeptionelle Komponente seiner Arbeit in Kauf. Zugleich erklärt das auch den von ihm eingenommenen Blickwinkel aus Augenhöhe. Folgerichtig fotografiert er auch in den Situationen weiter, wenn er als Fotograf erkannt und deshalb mit einem Blick fixiert worden ist. Auf diese Weise wird das Reagieren der Aufgenommenen zum integralen motivischen Bestand seiner Bilder.

Es sind die Kleinigkeiten, die absoluten Zufälligkeiten, die die Pointe ausmachen, wie beispielsweise das Zusammenspiel von Armen in einer Gruppe von Passanten, oder in einem anderen Bild die beiden Männer, die ihm Meter voneinander entfernt entgegen kommen, wobei der eine sich an den Mund greift und der andere mit dem kleinen Finger im Mund wühlt, gleichzeitig prangt über beiden im Hintergrund das Firmenschild „Dental Center“. Holger Biermann sieht solche Konstellationen dank seines wachen Blicks, oder scheint sie zu ahnen, um sie dann im richtigen Moment ins Bild zu bekommen. Dass er – wie es so schön heißt – nicht nur ein gutes Auge für besondere Konstellationen und Ereignisse hat, sondern auch für die Form, also die formale Gestaltung der Bilder, kann als weiteres Qualitätskriterium seiner fotografischen Arbeit angesehen werden. Bildaufbau, Komposition, Perspektiven, Linien, Formen und mehr, all das macht schließlich neben dem reinen Sehen die ästhetische Qualität seiner Bilder aus und komplettieren deren Qualität. All diese Fähigkeiten prägt das ebenfalls in 2017 herausgegebene Booklet mit dem Titel „Haus + Hof“, in dem er sich erneut mit spezifisch berlinischen Bauensembles befasst, die mit den anhaltenden Bauaktivitäten zu tun haben und die für die meisten Vorübergehenden in der von Holger Biermann ungeschminkt aufgenommenen Wirrnis in der Regel übersehen werden. Wie William Eggleston als Meister des Banalen und Trivialen bekannt ist, leben gerade diese Motive, aber nicht nur diese, von den Eigenheiten des Nicht-Erhabenen im Kontrast zu all dem, was die Kunstgeschichte hinsichtlich des Erhabenem in den letzten Jahrhunderten hervorgebracht hat. Das alltägliche menschliche Handeln, dem jegliches übergeordnete Regelwerk fehlt, wie gerade diese Ansichten verdeutlichen, aber nicht minder das vielschichtige Treiben auf den Straßen ist einfach nicht nach den klassischen Vorstellungen erhaben, schon gar nicht in Berlin, dieser Stadt des allgegenwärtigen Umbruchs, architektonisch genauso wie hinsichtlich der Population. Da er fortwährend auf seinen Gängen fotografiert, lässt sich das mit dem Sammeln von Worten, Gedanken oder ganzen Sätzen in der Literatur vergleichen. Sogar mit solchen Praktiken, wenn Autoren das frisch Aufgeschnappte, also das authentische Sprechen, protokollhaft notieren, nicht wissend, ob sie davon später bei der literarischen Umsetzung Gebrauch machen werden.

Über die unverzichtbare Affinität zu Bildern hinaus, will heißen, zu guten Bildern im Sinn des Mediums Fotografie, kommt es bei dieser Präsentationsform, wie Holger Biermann mit seinen Booklets ein ums andere Mal unter Beweis gestellt hat, wesentlich auf das richtige Editieren an. Aus der heterogenen wie umfangreichen Bildersammlung, die im Laufe der Jahre entstand, hat er – wie beschrieben – in ganz bewussten Arbeitsschritten genau die Motive herausdestilliert, die zueinander passen und aus denen sich quasi eine in sich logische Bildfolge kompilieren lässt, die auf irgendeine Weise eine Geschichte, ein Thema oder einen speziellen Aspekt der Wahrnehmung verdichtet. Damit praktiziert er genau das, was vor ihm schon die bekannten Straßenfotografen ihrerseits vorgemacht haben, als diese aus ihren Bildarchiven solche Motive zusammenstellten, für die es einen inhaltlichen Zusammenhang gab. Prominentes Beispiel ist Garry Winogrands 1975 publizierte Buch „Women Are Beautiful“ mit einer Bildauswahl, die schon vom Thema her evident ist und sofort ersichtlich macht, dass er bei seinen vorausgegangenen Streifzügen durch die Straßen nicht allein Frauen fotografiert hat. Das begründet auch, warum Holger Biermann in seinen Booklets aus wohl überlegten Gründen durchweg Bilder aus mehreren Jahren zusammenführt. Wenn er dabei auf Bildlegenden verzichtet, so deshalb, weil er vollends auf die Wirkmächtigkeit jedes einzelnen Bildes vertraut. Ebenso fehlen die genaueren Datierungen. Zur Orientierung gibt er lediglich die Zeitspanne an, während der er die Motive aufgenommen hat. Allein die Booklets selbst bekommen Titel. Diese zeichnen sich als ein weiteres Charakteristikum durch ihre mehrschichtigen Bedeutungsebenen aus. Diese Booklets haben etwas von einer Broschüre, verglichen mit einem Buch nach allgemeiner Vorstellung weniger Wertvolles oder Bedeutsames. Gerade diese Form der Distribution ist das Innovative. Die überschaubaren Kosten fallen erheblich niedriger aus als bei Buchproduktionen. Nachdem das erste Booklet noch frei verteilt wurde, entschied sich Holger Biermann zunächst füreinen moderaten Verkaufspreis und dann später für eine Schutzgebühr. Für ihn kam es primär darauf an, mit diesen einfachen Publikationen leichter in die Öffentlichkeit gehen zu können, was auch bedeutete, dass er viele Exemplare an mehr oder weniger ausgewählte Personen übergab. Das erinnert an die Anfänge des Japaners Nobuyoshi Araki, der zu Beginn seiner Künstlerkarriere von seinen Fotografien schlichte Fotokopien, oder wie diese anfangs noch hießen, „Xerokopien“ machte und die dann buchmäßig gebunden verteilte. Daraus entwickelte sich eine zahlenmäßig so umfangreiche Publikationsreihe, dass er heute wohl international zu den Fotografenmit den meisten veröffentlichten Büchern zählt. Mit den Booklets hat Holger Biermann nun seinerseits eine Distributionsform gefunden, die sich deutlich vom klassischen Fotobuch absetzt und das meint die ganze Aufmachung und das Format. Das Booklet hat in seinem kleinen, nur Hosentaschen großen Format seinen besonderen Charme. Das schließt nicht aus, dass aus diesen Booklets später größere Bücher werden.

Alle seine Booklets sollten beim ersten Zugriff schnell geblättert werden, schnell in der Weise, dass sich wie in einem Film Bild an Bild reiht und so der Bildduktus, das von ihm Intendierte bewusst wird, womit alle Motive wie zwischen zwei Klammern zusammen gehalten werden. Auf diese Weise erschließt sich der inhaltliche Zusammenhalt, der innere Kern seiner Bilder am ehesten. Erst in einem zweiten Durchgang sollte die gründlichere und mithin zeitintensivere Betrachtung folgen. Die führt dann zu ganz anderen Seheindrücken, weil sich erst dabei bestimmte Details, kompositorische Raffinessen, örtliche Besonderheiten und vieles mehr dem Bewusstsein erschließen. Wenn auch nicht jedes seiner Bilder in allen Belangen meisterhaft ist, das ist allein schon aufgrund der konzeptionellen Struktur der Booklets nicht zu erwarten, lassen diese in ihrer Summe keinen Zweifel darüber aufkommen, mit welcher Sensibilität Holger Biermann auf all das reagiert, was ihm tagtäglich per Augenschein begegnet und wie er es empfindet. Wenn sich auch immer wieder humorvolle Situationen einstellen, überwiegen die ernsteren Motive. Insofern kann von keinem durchgehenden Wohlgefallen und schon gar nicht von einer kritiklosen Betrachtung der bestehenden Verhältnisse gesprochen werden, weder, was die Menschen und deren Lebenssituationen, noch was das städtische Umfeld mit den faktischen Gegebenheiten betrifft. Da gibt es, wie uns seine Bilder vor Augen führen, bei allem Wohlwollen vieles zu bemängeln, vieles könnte verbessert werden. Und sage keiner, die Großstadt sei in all ihren Facetten begreifbar, das belangt die Menschen genauso wie die Bebauungen. Als Gipfel des Zivilisatorischen ist sie es in ihrer Komplexität mit Nichten, denn in ihr kulminiert alles, was es an Lebensformen gibt. Im Guten wie im Schlechten. Je mehr Facetten der Großstadt wir kennenlernen – und die von Holger Biermann fotografisch erfassten gehören zweifelsfrei dazu – umso besser lernen wir das Großstädtische verstehen. Oder, wenn wir es schon nicht im wahrsten Sinne des Wortes verstehen, dann wird uns das Großstädtische doch in seinen Bildern als Phänomen des 21. Jahrhunderts vertrauter. Wir können unsere Bewusstheit an ihnen messen und zugleich schulen.

 

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